2 Geschäftsmänner in modernen, weitläufigen Treppenhaus geben sich die Hand
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Auf dem Weg zu einem 28. Regime im europäischen Gesellschaftsrecht

Die Idee eines „28. Regimes“ für Unternehmen in der Europäischen Union hat sich in bemerkenswert kurzer Zeit zu einem der sichtbarsten Projekte der europäischen Wettbewerbsfähigkeitsagenda entwickelt. Ausgehend von den Berichten von Enrico Letta und Mario Draghi soll das Vorhaben dazu beitragen, die Fragmentierung des Binnenmarktes abzubauen und die Attraktivität Europas als Standort für Innovation, Kapital und Wachstum zu stärken. Kern der Idee ist ein optional wählbares, unionweites Regelwerk, das neben die 27 nationalen Rechtsordnungen tritt und Unternehmen grenzüberschreitend ein einheitliches rechtliches Umfeld bieten soll. Über die konkrete Ausgestaltung herrscht jedoch weiterhin intensive politische Diskussion. Mit Spannung wird der Legislativvorschlag der Kommission erwartet, der für das erste Quartal 2026 angekündigt ist.

Verordnung oder Richtlinie? Eine Weichenstellung im Zentrum der Debatte

Im Zentrum steht dabei derzeit die Frage nach dem geeigneten Gesetzgebungsinstrument. Während die Kommission bislang offenlässt, ob sie am Ende eine Richtlinie oder eine Verordnung vorschlagen wird, haben führende Vertreterinnen und Vertreter der EU-Organe bereits klare Präferenzen artikuliert. Sowohl die für Start-ups und Scale-ups zuständige Kommissarin als auch der EU-Justizkommissar haben sich öffentlich für eine Verordnung ausgesprochen und ausdrücklich vor einer Situation gewarnt, in der Europa „27 Versionen eines 28. Regimes“ erhält. Nur eine unmittelbar geltende Verordnung, so die Argumentation, könne die notwendige Einheitlichkeit und Vorhersehbarkeit schaffen, die Unternehmen für grenzüberschreitende Aktivitäten benötigen. Gegen eine Verordnung spricht, dass sie wohl auf Artikel 352 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gestützt werden müsste, der Einstimmigkeit und dementsprechend möglicherweise langwierige Verhandlungen erfordern würde. Demgegenüber könnte eine Richtlinie auf Artikel 50, 114 Absatz 1 AEUV gestützt werden; diese Rechtsgrundlage erlaubt es dem EU‑Gesetzgeber, im Bereich des Gesellschaftsrechts mit qualifizierter Mehrheit harmonisierend tätig zu werden. Die vereinzelte vorgebrachte Idee, eine Verordnung auf Artikel 114 Absatz 1 AEUV zu stützen, vermag jedenfalls nicht zu verfangen: Sie ist dogmatisch nicht haltbar, da Artikel 114 Absatz 1 AEUV im Bereich der Niederlassungsfreiheit subsidiär ist und mit einer Verordnung eine supranationale Rechtsform geschaffen würde, die keine Harmonisierung darstellt. Darüber hinaus würde die damit einhergehende rechtliche Unsicherheit den Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens insgesamt gefährden.

Das Parlament positioniert sich: Von der ESSU zur „Societas Europaea Unificata“

Parallel arbeitet das Europäische Parlament an einem eigenen Positionsentwurf und konzentriert sich dabei auf das Gesellschaftsrecht. Der JURI-Ausschuss hat hierzu im Dezember 2025 einen umfangreichen Initiativbericht vorgelegt. Mit dem Instrument des legislativen Initiativberichts kann das Parlament auf proaktive Weise politischen Einfluss auf die Gesamtplanung der Legislativtätigkeit und auf die Festlegung der politischen Agenda nehmen. Eine rechtliche Bindung der Europäischen Kommission an die Initiative des Europäischen Parlaments besteht dabei nicht. Der in der ersten Entwurfsfassung verwendete Name „European Start-Up and Scale-Up Company“ (ESSU) erfährt im finalen Berichtstext eine Änderung: Die Gesellschaftsform soll künftig „Societas Europaea Unificata“ (S.EU) heißen – eine „vereinheitlichte europäische Gesellschaft“. Diese Umbenennung verdeutlicht das Bestreben des Parlaments, das Instrument über den Start-up-Bereich hinaus zu öffnen und als generalisierbares europäisches Unternehmenslabel zu etablieren.

Harmonisiertes nationales Modell statt supranationaler Rechtsform

Der Bericht des JURI-Ausschusses sieht keine neue supranationale Gesellschaftsform nach dem Vorbild der bestehenden SE vor. Die S.EU soll vielmehr als nationale Gesellschaftsform mit harmonisierten Kernelementen ausgestaltet werden. Grundlage wäre eine Richtlinie mit Maximalharmonisierung auf Basis der Artikel 50 und 114 AEUV. Nationale Gesetzgeber wären verpflichtet, die wesentlichen Merkmale der S.EU einheitlich umzusetzen, damit ein S.EU-Unternehmen – unabhängig vom Gründungsstaat – in der gesamten EU automatisch als solches anerkannt wird.

Digital, mobil, vereinheitlicht: Die strukturellen Eckpunkte der S.EU

Inhaltlich schlägt der Bericht ambitionierte Vorgaben vor. Die Gründung einer S.EU soll vollständig digital und idealerweise innerhalb von 48 Stunden möglich sein. Ein unionsweit einheitlicher Unternehmensidentifikator soll Transparenz und grenzüberschreitende Nutzung erleichtern. Darüber hinaus wird eine digitale Plattform auf Unionsebene gefordert, die als zentraler Einstiegspunkt in die nationalen Handelsregister dient und das „Prove-it-once“-Prinzip verwirklicht. Die S.EU soll Sitzverlegungen innerhalb der EU erleichtern, über flexible Kapitalregelungen verfügen – einschließlich der Möglichkeit eines anfänglichen Mindestkapitals von nur einem Euro – und einheitliche Anforderungen an Unternehmensgruppen ermöglichen. Anders als frühere Vorschläge sieht der Bericht zudem keine Beschränkung auf innovative Unternehmen vor; die S.EU stünde grundsätzlich allen nicht börsennotierten Kapitalgesellschaften offen. Ferner sollen europaweit einheitliche Muster für Gesellschafts- und Gesellschafterverträge zur Verfügung gestellt werden.

Schutz der Arbeitnehmerrechte und der Mitbestimmung

Ein besonders sensibler Bereich betrifft das Arbeits- und Mitbestimmungsrecht. Der Bericht betont ausdrücklich, dass die S.EU nicht zur Umgehung nationaler Arbeitnehmerrechte genutzt werden darf. Ab dem Erreichen der im Beschäftigungsstaat geltenden Schwellenwerte sollen nach dem Bericht des Rechtsausschusses Regelungen zur unternehmerischen Mitbestimmung genauso Anwendung finden wie bei rein nationalen Gesellschaften.

Digitale Infrastruktur: Aufwertung bestehender Register statt neuer EU-Behörden und Parallelregister

Große Bedeutung misst der Bericht auch der Ausgestaltung der digitalen Infrastruktur bei. Anstelle eines neuen supranationalen europäischen Unternehmensregisters, wie es noch im ersten Berichtsentwurf vorgesehen war, soll die S.EU nun auf einem europaweiten digitalen Portal aufbauen, das Informationen bündelt und auf die bestehenden nationalen Register verweist. Dieser Ansatz ist zu begrüßen. Er vermeidet die Schaffung neuer EU-Behörden, nutzt die durch die Digitalisierungsrichtlinien I und II erreichte Modernisierung der Registerlandschaften und stärkt die Interoperabilität über das Business Registers Interconnection System (BRIS), also das europaweite Vernetzungssystem der nationalen Handels- und Unternehmensregister.

Ein völlig neues europäisches Unternehmensregister würde mehr Probleme als Lösungen schaffen. Die bestehenden nationalen Register funktionieren und werden bereits durch die jüngsten Rechtsakte – die Digitalisierungsrichtlinien I und II – weiter gestärkt. Ein zusätzliches EU-Register würde lediglich zu Bürokratieaufbau, Mehrkosten und Rechtsunsicherheit führen.

Der entscheidende Punkt: Ein 28. Regime nur auf Grundlage des bestehenden Acquis

Vor diesem Hintergrund stellt sich unweigerlich die Frage, wie das 28. Regime mit dem bestehenden gesellschaftsrechtlichen Acquis Europas in Einklang gebracht werden kann. Die Europäische Union verfügt heute über ein hohes Schutzniveau bei der Bekämpfung von Geldwäsche, der Inhalts- und Identitätskontrolle bei wesentlichen gesellschaftsrechtlichen Vorgängen sowie der Zuverlässigkeit und Publizität von Registereintragungen. Die vorbeugende gerichtliche, administrative oder notarielle Kontrolle, inzwischen unionsrechtlich kodifiziert, bildet ein tragendes Fundament für Rechtssicherheit und Investitionsschutz. Diesen hohen Standard der Präventivkontrolle gilt es nicht nur bei der Gründung, sondern auch bei allen wesentlichen gesellschaftsrechtlichen Vorgängen im Lebenszyklus der Gesellschaft – insbesondere auch bei Anteilsabtretungen und Satzungsänderungen – zu erhalten. Hierfür sind Notarinnen und Notare als Gatekeeper unerlässlich. Ein 28. Regime, das diese Strukturen unterläuft, würde nicht zu mehr Wettbewerbsfähigkeit führen, sondern zu größerer Unsicherheit – und damit zu höheren Transaktionskosten – und würde Missbrauch Tür und Tor öffnen.

Vereinfachung mit Risiken: Musterdokumente

Kritisch zu bewerten ist der im INL-Bericht geäußerte Vorschlag, einheitliche europaweite Mustersatzungen oder Gesellschaftervereinbarungen vorzusehen. Solche Modelle mögen effizient erscheinen, werden jedoch der Vielfalt realer Unternehmenskonstellationen und ‑Interessen nicht gerecht. Pauschale Muster führen zu Intransparenz, da wesentliche Regelungen in private Dokumente ausgelagert werden, die nicht der Registerpublizität unterliegen. Dadurch kann sogar mehr Komplexität entstehen. Derartige Standardisierung führt auch nicht zu geringeren, sondern zu höheren Kosten, denn schon im Gründungsstadium werden Gründerinnen und Gründer nicht ohne Rechtsberatung auskommen. Vor allem ex-post, also nach der Gründung, wird sich die Illusion, eine Gesellschaftsgründung sei ein immer gleich gelagerter Standardvorgang, aber in vielen Fällen nicht bewahrheiten. Vielmehr ist nachträglich dann mit erhöhtem Anpassungsbedarf und erhöhter Streitanfälligkeit zu rechnen.

Delaware: kein Modell für Europa

Das im Rahmen der auch öffentlich geführten Debatte häufig als vermeintliches Vorbild zitierte Beispiel des Gesellschaftsrechts des US-Bundesstaates Delaware verdankt seine Attraktivität gerade nicht stabilen Schutzstandards, sondern schwachen Publizitätsvorgaben und einer hochspezialisierten Gerichtsbarkeit. Ein solches System ist mit europäischem Gesellschafts- und Rechtsstaatsverständnis unvereinbar, weil es auf eine Präventivkontrolle verzichtet und daher keine verlässlichen Register kennt. Eintragungen, die lediglich auf den eigenen Angaben der Gründer beruhen, spiegeln eben nur diese Angaben und nicht die tatsächlichen Verhältnisse wider. So ist kein Vertrauensschutz und erst recht kein gutgläubiger Erwerb möglich. Vielmehr werden auch hier ex-post enorme Folgekosten produziert, weil vor jeder Veränderung eine kostspielige due diligence durchgeführt und certificates of good standing beigebracht werden müssen. Für das 28. Regime kann Delaware deshalb kein Vorbild sein – weder rechtspolitisch noch für den praktischen Unternehmensalltag. Europa sollte an seinen Werten der Verlässlichkeit und Transparenz konsequent festhalten.

Ausblick: Zwischen Anspruch und Realität

Der Erfolg des 28. Regimes wird letztlich davon abhängen, ob es gelingt, den bestehenden europäischen Acquis zu nutzen und nicht durch parallele Strukturen zu verdrängen. Gerade im Zusammenspiel mit modernen, schnellen und digitalen Verfahren liegt hierin Europas eigentlicher Wettbewerbsvorteil: ein Binnenmarkt, der Innovation ermöglicht, ohne die verlässlichen rechtsstaatlichen Grundlagen zu opfern, die Investitionen und Wachstum tragen. Notarinnen und Notare können dabei als zentrale Anlaufstelle für Gründer und Investoren fungieren und die wesentlichen gesellschaftsrechtlichen Vorgänge mit Registerbezug besonders nutzerfreundlich, sicher und effizient gestalten.

Die kommenden Monate werden richtungsweisend sein. Wenn es den europäischen Institutionen gelingt, Innovation, Rechtssicherheit und Binnenmarktlogik überzeugend zu verbinden, kann das 28. Regime einen Beitrag zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit leisten.

Markus Brückner, Referent Bundesnotarkammer Büro Brüssel

Über den Autor

Markus Brückner ist Notarassessor im Bezirk der Notarkammer Baden-Württemberg und als Referent im Brüsseler Büro der Bundesnotarkammer tätig.

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