Bild zur Veranstaltung "Justice without litigation" in Berlin am 11. Juli 2025
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Außergerichtliche Justizgewährung im nichtstreitigen Bereich

Die Bundesnotarkammer beteiligt sich an dem von der Europäischen Kommission geförderten Forschungsprojekt „Justice Without Litigation II“

In einer Zeit, in der Gerichte vielerorts überlastet sind, rücken alternative Wege der Justizgewährung im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit verstärkt in den Fokus der rechtspolitischen Diskussion. Das von der Europäischen Kommission geförderte Forschungsprojekt „Justice Without Litigation II“ (kurz: JuWiLi II) knüpft hieran an: Ziel des Projekts ist es, innovative, inklusive und effektive Formen der außergerichtlichen Bewältigung nichtstreitiger Verfahren zu erforschen und weiterzuentwickeln. In dem interdisziplinären Projekt wirken Expertinnen und Experten aus Rechtswissenschaft, Ökonomie, Verhaltensforschung und Digitalisierung zusammen – mit dem gemeinsamen Anspruch, das Rechtssystem noch bürgernäher und effizienter zu gestalten.

Das Projekt im Überblick

JuWiLi II ist die Fortsetzung eines bereits in einer ersten Projektphase erprobten Ansatzes, außergerichtliche Justizgewährung im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit systematisch zu analysieren und praxisnah weiterzuentwickeln. Das Projekt konzentriert sich auf die nichtstreitige Rechtspflege durch Notarinnen und Notare als unabhängige sowie unparteiische Amtsträgerinnen und Amtsträger und setzt einen besonderen Schwerpunkt auf die Bereiche des Erb- und Familienrechts. Dabei geht es nicht nur um rechtliche Aspekte, sondern insbesondere um das Zusammenspiel von Recht, Wirtschaft, Technologie und menschlichem Entscheidungsverhalten. Das Projekt ist europäisch ausgerichtet, berücksichtigt aber ebenfalls nationale Erfahrungen und konkrete institutionelle Rahmenbedingungen. Durch eine systematische Datenerhebung, eine rechtsvergleichende Analyse und die Ermittlung gemeinsamer Mindestverfahrensstandards möchte das Projekt Brücken zwischen den unterschiedlichen Justizsystemen der Mitgliedstaaten bauen. Zentrale Fragestellungen des Projekts sind etwa: Inwiefern lassen sich Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie, der Rechtsvergleichung, der Digitalisierung und den Wirtschaftswissenschaften zur Verbesserung außergerichtlicher Verfahren heranziehen? Besteht ein Bedarf zur Neujustierung nationaler Kompetenzgefüge im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit?

Die Arbeitsstruktur von JuWiLi II ist arbeitsteilig und interdisziplinär organisiert. In mehreren Working Groups und Task Forces werden spezifische Themenschwerpunkte bearbeitet, darunter Legal, Divorce, Digitalisation, Economics und Behavioral Economics. Der Teilnehmerkreis setzt sich, angeführt von der Österreichischen Notariatskammer als Projektleitung, aus einem internationalen Konsortium aus Forschungseinrichtungen und Institutionen der Rechtspflege zusammen, darunter auch die Bundesnotarkammer. Insgesamt sind in dem Projekt 22 Mitgliedstaaten der europäischen Union vertreten. Das Forschungsprojekt soll Ende 2026 abgeschlossen und die Resultate sodann in einem kumulierten Forschungsbericht publiziert werden.

Die Rolle der Bundesnotarkammer – Verhaltensökonomie trifft auf Recht

Die Bundesnotarkammer bringt sich in JuWiLi II mit einem besonderen Fokus auf die Schnittstelle von Recht und Verhaltensökonomie ein. Sie leitet die innovative Task Force Behavioral Economics, die untersucht, wie kognitive Verzerrungen, Entscheidungsheuristiken und soziale Präferenzen das Verhalten von Rechtssubjekten insbesondere in familienrechtlichen Entscheidungssituationen wie etwa Scheidungsverfahren beeinflussen.

Ein Ziel der verhaltensökonomischen Teilstudie ist es, herauszufinden, wie rechtliche Gestaltungen und gegebenenfalls außergerichtliche Verfahren so ausgestaltet werden können, dass sie schnell, intuitiv verständlich, inklusiv und wirksam sind – auch für Menschen ohne juristische Vorbildung. Die Bundesnotarkammer fungiert hierbei nicht nur als Koordinatorin, sondern auch als Schnittstelle zur Praxis: Als Repräsentantin deutscher Notarinnen und Notare bringt sie auf Basis der praktischen notariellen Erfahrung in der rechtssicheren außergerichtlichen Justizgewährung wertvolle Grundlagen in das Projekt ein.

Die Mitwirkung der Bundesnotarkammer unterstreicht die Bedeutung rechtspraktischer Institutionen bei der Entwicklung neuer Modelle im Bereich der Justiz und zeigt, wie innovativ die Notarinnen und Notare in Deutschland und Europa auf aktuelle Herausforderungen reagieren.

Tagung in Berlin – Akademischer Austausch und wissenschaftliche Impulse

Ein Höhepunkt des bisherigen Projektverlaufs war eine von der Bundesnotarkammer ausgerichtete Veranstaltung am 11. Juli 2025 in Berlin. Unter Beteiligung aller Working Groups und Task Forces fand in einem halböffentlichen Kreis ein intensiver Austausch über den Stand des Projekts und die Perspektiven interdisziplinärer Zusammenarbeit statt, begleitet von internen Arbeitstreffen der einzelnen Working Groups und Task Forces.

Bereits am Vorabend begann die Veranstaltung mit einem feierlichen Empfang in der österreichischen Botschaft in Berlin – ein würdiger Rahmen, der die europäische Dimension des Projekts unterstrich. Am Folgetag trafen sich Projektbeteiligte und Öffentlichkeit zu einem Workshop, der sowohl Präsentationen als auch eine vertiefende Diskussion beinhaltete.

Nach einem kurzen Grußwort der Bundesnotarkammer und der österreichischen Projektleitung folgte die Vorstellung der verschiedenen Arbeitsgruppen: Die Working Group Legal und die Task Force Divorce präsentierten ihre jeweiligen Vorgehen zur rechtsvergleichenden Untersuchung der Rahmenbedingungen in familienrechtlichen nichtstreitigen Verfahren. Die Working Group Digitalisation stellte ihren aktuellen Arbeitsstand zur Prozessanalyse im Hinblick auf innovative Tools zur digitalen Unterstützung außergerichtlicher Verfahren vor. Die Working Group Economics stellte ihren Arbeitsplan bezüglich der ökonomischen Erforschung von Effizienzpotenzialen verschiedener Möglichkeiten der Bewältigung nichtstreitiger Verfahren dar. Die von der Bundesnotarkammer geleitete Task Force Behavioral Economics skizzierte, wie Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie im Kontext außergerichtlicher nichtstreitiger Verfahren im Familien- und Erbrecht fruchtbar gemacht werden können.

Nach einer kurzen Kaffeepause folgte der wissenschaftliche Höhepunkt des Vormittags: Professor Dr. Klaus Ulrich Schmolke, Rechtswissenschaftler an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und renommierter Experte im Bereich Law and Economics, hielt eine Keynote zum Thema „Bounded Rationality, Paternalism, and the Law – Applying Insights from Behavioral Economics to Law“. Er führte in die Erkenntnisse der Verhaltensökomie ein und zeigte auf, wie gesetzgeberische und institutionelle Gestaltung realistische Annahmen über menschliches Verhalten berücksichtigen können. Dabei stellte er insbesondere die Rolle des Notars als „Debiasing Agent“ heraus, der durch seine Mitwirkung an Rechtsgeschäften typischen menschlichen Fehlannahmen die Grundlage entziehen und damit zu rationaleren Entscheidungen beitragen könne.

Daran anschließend folgte eine Podiumsdiskussion mit Professor Dr. Schmolke und den Vorsitzenden der Working Groups und Task Forces unter aktiver Einbeziehung des fachkundigen Auditoriums. Es wurde hierbei – thematisch anschließend an die vorangegangene Keynote – das Thema „Interdisciplinarity as an Opportunity for Legal Policy Development Research and Legal Practice“ aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Besonders betont wurde von den Diskussionsteilnehmern die Notwendigkeit, disziplinäre Grenzen zu überschreiten, um praxiswirksame Innovationen im Recht zu ermöglichen.

Zum Abschluss wurden die Diskussionsergebnisse zusammengefasst und die Projektleitung gab einen Ausblick auf die nächsten Schritte. Dabei wurde deutlich, dass JuWiLi II nicht nur auf ein wissenschaftliches Projekt beschränkt sein muss, sondern auch als ein echtes Laboratorium für die Zukunft der Rechtsgestaltung in Europa fungieren kann.

Fazit

Das Projekt „Justice Without Litigation II“ zeigt, wie aus interdisziplinärer Forschung konkrete Ansätze für eine moderne, bürgernahe Justiz hervorgehen können. Die Bundesnotarkammer beteiligt sich hieran als Brücke zwischen Forschung und Praxis, als Impulsgeberin für verhaltensbasierte Rechtsgestaltung und als Gastgeberin eines gelungenen Dialogformats. Die Tagung in Berlin hat gezeigt: JuWiLi II kann einen wertvollen Beitrag zur Erforschung der Möglichkeiten außergerichtlicher Justizgewährung im nichtstreitigen Bereich leisten.

 

Fotos: Frank Peters, Berlin

Justice Without Litigation II: Workshop am 11.07.2025 in Berlin, Dr. Johannes Rübeck
Dr. Johannes Rübeck
Justice Without Litigation II: Vortragende und Teilnehmer/-innen des Workshops am 11.07.2025 in Berlin
Vortragende und Teilnehmer des JuWiLi II Events
Justice Without Litigation II: Teilnehmer/-innen des Workshops am 11.07.2025 in Berlin
Aigars Kaupe
Justice Without Litigation II: Teilnehmerin des Workshops am 11.07.2025 in Berlin
Hana Hoblaj
Justice Without Litigation II: Teilnehmer/-innen des Workshops am 11.07.2025 in Berlin
v.l.n.r.: Stephan Matyk-d'Anjony, Theo Leyh, Prof. Dr. Klaus Ulrich Schmolke, LL.M. (NYU) Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in iur. Brigitta Lurger, LL.M. (Harvard), Dr. Mag. Axel Sonntag, Mag. Dominik Grübl, PhD
Justice Without Litigation II: Teilnehmer des Workshops am 11.07.2025 in Berlin
v.l.n.r.: Dr. Mag. Axel Sonntag, Dr. Johannes Rübbeck, Dominik Grübl, PhD
Dr. Johannes Rübeck, Referent Bundesnotarkammer Büro Brüssel

Über den Autor

Dr. Johannes Rübbeck ist Notarassessor im Bezirk der Landesnotarkammer Bayern und als Referent im Brüsseler Büro der Bundesnotarkammer tätig.

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